Six feet under
Als ich das erste Mal wieder nach Hause kam, war alles anders. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Man denkt ja, nach Hause zu kommen ist wie zurück in eine glückliche Kindheit. Grüne Wiesen, summende Bienen und ein paar faule Kühe und Pferde, die nur darauf warten, dass die Lütte mal wieder vorbeikommt. Ausreiten, gemächlich durch den Wald. Aber hier sieht alles anders aus. Berge gab es hier doch nie. Früher war hier doch plattes Land. Oder spielt mir die Erinnerung einen Streich? Und die Menschen sehen auch seltsam aus, so grau.
Vor zwei Wochen rief Mama an, der Vater ist gestorben. Morgen ist Beerdigung, sonst wäre ich gar nicht gekommen. Bin froh, dass ich hier weg bin. Um nicht den ganzen Tag bei Mama abzuhängen, besuche ich Tante Helga. Mit Helga kann man reden, früher bin ich immer zu ihr gelaufen, wenn was war. Deshalb dachte ich, sie kann mir das erklären.
»Sag mal, dieser Berg? An den kann ich mich gar nicht erinnern?«
»Ach, Kindchen«, antwortet sie. Und dann ist Schweigen.
Früher wusste Tante Helga immer, was gut und richtig ist, und das stimmte meistens auch. Dann hat sie mir lang und breit alles erklärt, ein paar Witzchen eingestreut und ich war wieder glücklich. Dass sie jetzt so schweigsam ist, macht mir Angst. Wann hat das angefangen? Dieses Schweigen? Seit SixFeetUnder – 6F.U.N – das große Werk eröffnet hat? Die haben den Leuten ihr schon lange unfruchtbares Land abgekauft, Arbeitsplätze geschaffen. Alle waren glücklich und wurden reich. Zwanzig Jahre ist das jetzt her. Die Ernte wurde eh seit Jahren immer weniger, von den Erträgen konnte niemand mehr leben. Der Boden längst ausgelaugt, zu wenig Regen und viel zu heiß. Und wenn es geregnet hat, dann ist die Ernte ersoffen, so nass war es. Dann kam 6F.U.N.. Auch meine Eltern haben dort gearbeitet, endlich nicht mehr Kühe melken. Die gaben eh kaum noch genug Milch. Und 30 Cent pro Liter, wer soll davon leben? Nur die Lotte haben sie behalten, aus Nostalgie. Das Land hat viel Geld gebracht. Und jetzt ist dort der Berg.
Was 6F.U.N. eigentlich gemacht hat, weiß hier niemand so genau, zumindest erzählt es niemand. Auch wenn alle dort gearbeitet haben. Der Vater ging morgens mit der Schaufel zum Werk und kam abends völlig verdreckt zurück. Duschen, Abendessen und ins Bett. Jeden Tag. Die Mutter hat das Werkzeug geschliffen, meistens Schaufeln, die der Vater mit nach Hause gebracht hat. Und einen To-Go gab es gratis. Erzählt haben sie nichts. Immer nur abgewunken. Fun war das jedenfalls nicht.
»Frag nicht so viel, Kindchen!«, bekam ich zu hören, und: »Das viele Geld gefällt dir aber schon, was?«
Zu Weihnachten gab es Plastikschaufeln und -wetzsteine: in rosa für die Mädchen, in blau für die Jungs. Blödsinn, aber so war das damals. Ich mochte immer lieber die blauen. Eigentlich wollte ich einen Lederfußball, naja, man nimmt, was man kriegt, aber jedes Jahr? Dann bin ich halt weg.
Ich gehe den Schäuflerweg entlang. Meine alte Schulfreundin Laura hat hier mal gewohnt, vielleicht ist sie da.
Die Klingel macht ein knarziges Geräusch, als wenn man eine Plastikflasche zerquetscht. Lauras Mutter Gerda öffnet die Tür.
»Kindchen, was machst du denn hier? Die Laura ist weg, vor vielen Jahren schon, in die Stadt. Es tut mir so leid mit deinem Vater, er war doch kerngesund … Aber komm doch rein. Möchtest du einen Kaffee und ein Stück Kuchen?«
»Geht’s dir gut, Gerda? Du siehst so grau aus!«
»Ach, Kindchen, frag nicht!«
Der Kuchen ist auch irgendwie grau und schmeckt ein bisschen nach Plastik.
»Sag mal«, frage ich, »dieser Berg dahinten? Ich kenn‘ den gar nicht. War da nicht mal unsere Kuhweide? Oder diese Grube?«
»Möchtest du noch ein bisschen Kaffee?«, fragt sie und schlägt nach einer Fliege.
»Ich muss dann auch mal wieder, danke für den Kuchen. Und grüß mal die Laura!«
Auf dem Rückweg denke ich an die F.U.N.-Karawane, die hier früher immer lang gegangen ist. Schaufeln über der Schulter, Wetzsteine in der Hand. Grau in Grau. Aber ihre Augen glänzten, leuchteten fast.
Sie sangen: »Wir haben Fun, wir haben Fun – wir haben 6-mal Fun – Six Feet Under!« und gingen Richtung Kuhweide, dahin, wo jetzt der Berg ist.
Mama ist nicht zu Hause. Auf dem Tisch liegt ein Zettel: »Bin unterwegs. Hol dir einen To-Go und warte nicht auf mich.«
Ich nutze die Gelegenheit und durchsuche die Schubladen: Strohhalme, To-Go-Becher mit und ohne Deckel, Trinkpäckchen, Kaffee-Kapseln und ein paar Plastikwetzsteine. Und darauf Zettelchen mit der Aufschrift FUN.
Draußen wird es langsam dunkel. Ich durchsuche das ganze Haus. Nur der übliche Plastikkram: Teller, Tassen, Besteck, Tüten. Vom Fenster aus sehe ich den Berg. Er schillert irgendwie bläulich, oder bilde ich mir das ein? Und ganz oben liegt Schnee. Schnee? Im Sommer? Langsam wird mir mulmig.
Inzwischen ist es stockfinster, meine Taschenlampe leuchtet gerade mal zwei Meter weit – six feet. Die alte Scheune steht noch, da müssen irgendwo die Schaufeln liegen.
Ich suche mir die beste Schaufel raus. Ich erinnere mich, dass Vaters Name in den Stiel geritzt war. Benno. Und da liegen Mutters Wetzsteine. Hier sind die Namen nicht mehr zu erkennen. Am besten nehme ich beides mit, man weiß ja nie.
Der Berg schillert in der Dunkelheit, wie ein Geist. Ist ja nicht weit. Ich gehe am elektrischen Zaun entlang, es muss einen Durchgang geben, irgendwo. Hunde bellen. Zutritt strengstens verboten! Hinter mir schnüffelt etwas? Ein Knacken. Ein Schatten, aber ich kann nichts sehen. Da ist ein Loch im Zaun. Daneben ein To-Go-Becher. Irgendjemand war vor mir da. Ich schlüpfe durch, rutsche aus, ich blute, hab‘ mir die Hand aufgerissen, aber ich bin drin.
Erst mal den Weg entlang. Bergauf. Ich bin eine geübte Wanderin, aber es wird immer steiler. Da liegen noch mehr Becher. Ich fange an zu klettern, folge der Spur der Becher. Herrgott, wie viele Leute waren denn schon hier? Hin und wieder finde ich eine alte Plastikschaufel, auch eine blaue. Ich werde ein bisschen sentimental. Je höher ich komme, desto mehr stinkt es. Bestialisch. Der Boden ist rutschig, ich kann mich kaum halten. Aber der Gipfel ist nicht mehr weit. Inzwischen gehe ich nur noch auf Bechern. Hunderte, Tausende. Hunderttausende.
Als ich oben bin, wird es langsam hell. Die Sonne geht auf. Die Berge erstrecken sich bis zum Horizont. Berge voller Schnee.
Ghost
It’s been here…
It’s been here longer than me
If I said those words
Do you promise
My profile is low
My eyes like yours
My mouth is yours
My head looks the same
My lips don’t play that game
Like a ghost
I’ll be your host
Like a castle ghost
Made by
Song: beatbar
Songwriting: Stef Awramoff
Mix & Mastering: Eric Limberg
Text: Svea Herrmann
Sprecherin: Svea Herrmann
Collage: Stefan Heuer